FOCUS-online-Reportage aus Berlin-Neukölln Und dann sagt Ali vor dem arabischen Brautmoden-Laden einen schockierenden Satz

FOCUS-online-Reporter Ulf Lüdeke (Berlin)

Mittwoch, 11.10.2023, 07:27

Berlin-Neukölln gilt als Palästinenser-Hochburg in Deutschland. Die Stimmung ist nach den Hamas-Angriffen auf Israel dort angespannt. Wie viele im "Kiez" ticken, offenbart sich vor einem arabischen Brautmoden-Geschäft.

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Das Straßenbild auf der Sonnenallee in Berlin-Neukölln ist stark arabisch geprägt.

Die zwei Palästinenserflaggen vor dem Orientladen hängen schlaff von den Stangen an diesem nieseligen Oktoberabend. Männer mit Vollbärten, Frauen mit Kopftüchern und quirlige Kinder huschen dicht gedrängt am Schaufenster vorbei. Duft von Shisha-Tabak liegt in der Luft.

Würde man sich nicht umdrehen, man könnte meinen, dieser Laden steht in Damaskus oder Beirut. Er liegt aber an der Sonnenallee in Neukölln. In der Bundeshauptstadt.

Der Mitdreißiger, der gerade noch hinter der Ladentheke Kunden bediente, tritt kurz vor die Tür und bejaht freundlich die Frage des Reporters, ob er der Inhaber sei. Und wird gleich schmallippig, als er etwas zur Stimmung im Kiez nach den Hamas-Angriffen auf Israel sagen soll. Nach einem gedämpften "Nein danke" dreht er sich um und kehrt in den Laden zurück.

Hamas-Terror gefeiert, TV-Team bedroht

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Plakate der pro-palästinensischen Gruppe "Samidoun", die Samstagabend in Berli-Neukölln ein Fest aus Anlass der Hamas-Angriffe auf Israel organisiert haben soll.

Die Stimmung auf der Sonnenallee ist angespannt. Immer wieder sieht man an an diesem Abend Menschen, die sich auf ihren Smartphones Videos von den Hamas-Angriffen anschauen. Doch viele wollen nichts zum Thema sagen.

Die Jubelfeier auf dem Hermannplatz wird aufs Schärfste in der deutschen Öffentlichkeit kritisiert. Gleichzeitig verteilen aber Hamas-Sympathisanten mitten in Berlin Baklava, süßes Gebäck, als Zeichen eines erfolgreichen Terrorangriffs auf Israelis. Ein TV-Team der "Welt" wurde sogar physisch bedroht und gezwungen, Aufnahmen der Szenerie zu löschen.

Schockierende Sätze vor Brautmoden-Geschäft

Doch vor einem der vielen arabischen Brautmoden-Läden, die es in der Sonnenallee gibt, steht schließlich Ali - und fängt an zu sprechen: "Ich weiß nicht, ob die Angriffe richtig waren", druckst der Palästinenser vor seinem Geschäft zunächst herum. Dann aber wird der mittelgroße Endvierziger, der seinen richtigen Namen nicht sagen will, deutlicher. "Zu 90 Prozent denke ich aber schon, dass sie richtig waren. Und viele hier im Kiez sehen das genauso", sagt Ali mit sanfter Stimme.

Der Satz, den Ali dann hinterherschiebt - und der vor allem unwahr ist -, schockiert: "Die Hamas tötet nicht Frauen und Kinder, so wie es israelische Soldaten machen, sondern nur Männer". Dass das UN-Kinderhilfswerk Unicef bestätigt hat, dass inzwischen Hunderte Kinder - israelische und palästinensische - ums Leben gekommen sind. Geschenkt.

Ali: "Ich lebe hier schon lange, bin hier aber nicht zu Hause"

Eigentlich, sagt Ali weiter, kümmere er sich nicht um Politik. "Ich arbeite hier bis 20 Uhr in meinem Geschäft und gehe dann nach Hause zu Frau und Kindern. Das ist meine Welt, ich habe keine großen Kontakte in den Kiez." Er selbst sei vor mehr als 30 Jahren aus Syrien nach Berlin gekommen. Seine palästinensische Familie habe Grund und Boden in Palästina besessen, bei sie von Israelis verdrängt worden sei.

"Ich lebe hier schon lange, aber ich bin hier nicht zu Hause. Mein zu Hause ist Palästina. Und ich würde, wenn man es mir erlaubt und wir unseren Grund zurückbekommen würden, mit meiner gesamten Familie Deutschland sofort verlassen und zurückgehen!"

Und das, merkt Ali an, sehen auch die meisten anderen Palästinenser, die er in Neukölln kennt, genau so. Selbst die jungen Frauen, sagt er und deutet auf eine vierköpfige Damengruppe, die sich vor seinem Schaufenster goldene und silberne Hochzeitskleider anschaut. Ob sie denn auch zurückgingen nach Palästina, wenn sie könnten, stellt er die Frage nun an die Gruppe? "Ja ja, wir alle", antwortet eine Endzwanzigerin, und ihre Freundinnen nicken etwas verlegen lächelnd.

Kopfstoß für Lehrer, Ohrfeige für 15-jährigen Schüler

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An dem Ernst-Abbe-Gymnasium war es nach einem Streit um eine Palästinenserfahne zu Handgreiflichkeiten zwischen einem Schüler und einem Lehrer gekommen.

Dass der Kampf zwischen Palästinensern und Israelis auch in Neukölln bisweilen zu Gewalt führt, wurde am Montagvormittag sogar auf dem Pausenhof einer Schule deutlich, die ebenfalls direkt an der Sonnenallee liegt.

Nach bisherigen Erkenntnissen der Polizei soll ein 61 Jahre alter Lehrer des Ernst-Abbe-Gymnasiums am Montag versucht haben, einen 14-Jährigen daran zu hindern, eine Palästina-Fahne auf dem Schulhof zur Schau zu stellen. Ein 15-Jähriger habe dem Lehrer bei dem Streit dann einen Kopfstoß verpasst, woraufhin der Lehrer den Jungen geohrfeigt habe. Der 15-Jährige soll den Lehrer daraufhin in den Bauch getreten haben.

Die herbeigerufene Polizei nahm Strafanzeigen wegen Körperverletzung von beiden Beteiligten auf, die Schulleitung kam zu einer Krisensitzung zusammen. Kurz zuvor hatte bereits Martin Hikel (SPD), Neuköllns Bezirksbürgermeister, vor Auseinandersetzungen gewarnt und gesagt, dass der Nahost-Konflikt schon "seit längerem" den Unterricht an manchen Schulen in Neukölln erschwere.

"Es wird nur wenige hier im Kiez geben, die über Israel etwas Positives sagen können"

Deutlich vorsichtiger als der Neuköllner Händler Ali schätzt eine etwa 30-jährige Palästinenserin die Lage ein, die auf der Sonnenallee in einem anderen Geschäft arbeitet und völlig anonym bleiben möchte. "Es ist sehr, sehr schwierig, dazu etwas zu sagen, auch weil die Lage so kompliziert ist und es deswegen so leicht ist, etwas Falsches zu sagen. Und das möchte ich auf gar keinen Fall, vor allem jetzt nicht", sagt die junge Dame.

Sie selbst schätzt die Lage in Neukölln seit den Hamas-Angriffen als "extrem angespannt" ein. "Es wird nur wenige hier im Kiez geben, die über Israel etwas Positives sagen können", meint sie. Gewalt sei aus ihrer Sicht der falsche Weg, das gelte für beide Seiten. "Ich habe überhaupt nichts gegen Israel, nichts gegen Juden. Die Zionisten aber, die mag ich nicht."

Verbot von Palästinensergruppe wird geprüft

Paul Zinken/dpa Demonstranten und Einsatzkräfte der Polizei treffen im Stadtteil Neukölln aufeinander. In Berlin-Neukölln hatten sich am späten Samstagabend etwa 50 Menschen zu einer laut Polizei pro-palästinensischen Demo versammelt.

Dass sich die Gemüter in Neukölln schnell wieder beruhigen könnten, scheint im Augenblick eher unwahrscheinlich. Zwar kündigte das Bundesinnenministerium nach der Jubelfeier am Hermannplatz an, ein Verbot der Palästinenser-Organisation "Samidoun", die die Feier organisiert haben soll, zu prüfen. Eindruck hat diese Ankündigung bei der Gruppe jedoch nicht hinterlassen. Für Mittwochnachmittag war am Montag schon die nächste Versammlung von Samidoun in Neukölln angekündigt worden. Die Polizei untersagte am Dienstag jedoch inzwischen den Protestzug, der vom Richardplatz in Neukölln bis zum Kottbusser Tor in Kreuzberg geplant war.


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